2023-10-17 MAZ | Drangsaliert und vergessen: Auf den Spuren der Zwangsarbeiter in Babelsberg

Drangsaliert und vergessen: Auf den Spuren der Zwangsarbeiter in Babelsberg

Christian Raschke gehört zu der Geschichtsarbeitsgruppe vom Freiland, die einen Rundgang zur Vergangenheit des Geländes erarbeitet hat.

Nichts gehört, nichts gesehen – das sagten einige Zeitzeugen aus der NS-Zeit über sich. Christian Raschke glaubt das nicht mehr, nachdem er sich mit Zwangsarbeit in Potsdam auseinandergesetzt hat. Für Interessierte gibt es nun einen Rundgang auf dem ehemaligen Arado-Gelände.

Judith von Plato

Judith von Plato

17.07.2023, 20:28 Uhr

Teltower Vorstadt. Die Sonne knallt. Christian Raschke hat sich in den Schatten auf dem Freilandgelände an der Friedrich-Engels-Straße in Potsdam zurückgezogen. Hinter ihm brutzelt das Backsteinhaus in der Sonne – so wie schon Dutzende Sommer zuvor.

Dem Haus und dem Gelände sieht man die Geschichte nicht direkt an. Wo heute ein alternatives Kulturzentrum und Treffpunkt vor allem für Jugendliche ist, war während des Nationalsozialismus einer der Standorte der Arado-Flugzeugwerke, eines großen Rüstungsbetriebs der NS-Zeit. Das Gebäude ist eines der wenigen auf dem Gelände, das erhalten geblieben ist.

Arado-Flugzeugwerke in Potsdam-Babelsberg

Der Rüstungsbetrieb fertigte im Zweiten Weltkrieg zahlreiche Flugzeugteile. Dafür beschäftigte er in Potsdam auch mehr als 1000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Um daran zu erinnern, hat eine Arbeitsgruppe vom Freiland einen Rundgang erarbeitet: den Arado-Rundgang. Wer in letzter Zeit in der Gegend rund um den Aradosee spazieren gegangen ist, könnte die Holzstelen, die die Gruppe dort an 16 Stationen angebracht hat, schon entdeckt haben.

„Die Idee, sich mit dem Gelände zu befassen, gibt es, seitdem das Freiland hier ist“, erzählt der 42-Jährige im Schatten des Gebäudes, wo einst der Wachschutz der Arado-Werke seinen Posten hatte. Seit nunmehr einem Jahr hat die AG aus etwa acht Menschen den Rundgang intensiv erarbeitet.

Geschichts-Ag vom Freiland beschäftigt sich mit Zwangsarbeit

„Wir wollten auf dem Gelände einen Erinnerungsort schaffen, weil wir schon von Arado und der Zwangsarbeit hier wussten. Damals war das noch nicht gut beleuchtet“, sagt Christian Raschke. „Letztendlich haben wir uns darauf geeinigt, einen Rundgang zu schaffen, nicht nur auf dem Gelände, sondern auch im öffentlichen Raum. Damit wir die Auseinandersetzung mit Zwangsarbeit und Nationalsozialismus auch nach außen tragen – im wahrsten Sinne des Wortes.“

Propaganda-Quelle aus dem „Arado-Boten“ von 1939: Ein Wächter steht am Eingang eines Werks der Arado-Flugzeugwerke in der heutigen Friedrich-Engels-Straße.

Propaganda-Quelle aus dem „Arado-Boten“ von 1939: Ein Wächter steht am Eingang eines Werks der Arado-Flugzeugwerke in der heutigen Friedrich-Engels-Straße.

© Quelle: Arado-Rundgang

2006 hatte sich die Landeshauptstadt verpflichtet „an ausgewählten Orten in Potsdam für eine angemessene Kennzeichnung, die an die Leiden und Opfer der Zwangsarbeiter aus ganz Europa erinnert, Sorge zu tragen“. Diesem Beschluss der Stadtverordneten sei Potsdam in den vergangenen 17 Jahren nicht ausreichend nachgekommen, kritisiert der Schulsozialarbeiter. „In Potsdam findet faktisch kaum Gedenken statt. Es gibt nur sehr wenige Orte, die als Erinnerungs- und Gedenkorte fungieren“, sagt Raschke. „Wir möchten der Stadt und der Öffentlichkeit zeigen, dass es möglich ist, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und etwas Konkretes zu schaffen – in Eigeninitiative, ohne große finanzielle Mittel und ohne lange Debatten.“

Zukunft des Arado-Rundgangs

Er hofft in Zukunft auf eine gute Zusammenarbeit mit der Verwaltung. Das Projekt sei noch nicht abgeschlossen. Neben neuen Erkenntnissen möchten die Ehrenamtlichen den Rundgang auch auf Englisch und in leichter Sprache zugänglich machen sowie mit Schulen kooperieren. Dafür wären finanzielle Mittel hilfreich. Bisher ist die Gruppe privat für die meisten Kosten aufgekommen.

Der Arado-Rundgang

Der Arado-Rundgang ist ein Projekt der ehrenamtlichen Geschichts-AG des alternativen Jugendzentrums Freiland.

Er thematisiert die Zwangsarbeit, die einst auf dem Gelände des Arado-Rüstungsbetriebs stattfand.

Zwei Kilometer ist der Rundgang lang und führt über öffentliche Wege über das ehemalige Gelände.

Die Wege sind teilweise nicht befestigt und daher nur bedingt rollstuhlgerecht.

Wer Interesse hat, kann den Rundgang auch digital auf der Website erleben: www.arado-rundgang.de.

60 bis 90 Minuten dauert der Rundgang.

Von Vorteil ist ein internetfähiges Smartphone, das QR-Codes scannen kann.

Das Projekt ist noch nicht abgeschlossen. Weitere Informationen werden gesammelt und veröffentlicht.

Kontakt: Wer an einer geführten Tour interessiert ist, kann sich bei der Geschichts-AG per E-Mail melden: geschichtsprojekt@freiland-potsdam.de

Die Mitglieder steckten nicht nur Geld, sondern auch Zeit in das Projekt: Christian Raschke verbrachte im vergangenen Jahr viele Stunden in Archiven. Einer seiner Recherche-Höhepunkte: Als er einen Grundriss des ehemaligen Werks ausgrub. „Werkkantine für ausländische Arbeiter“ war eines der Gebäude darauf beschriftet. „Da sind wir natürlich sofort hellhörig geworden“, erzählt er. Das zeige den Versuch, die Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter von den anderen zu separieren und die rassistische Hierarchie des NS-Betriebs.

NS-Zwangsarbeit in Potsdam: Massenphänomen

Andere Quellen zeigten, dass zwei Wachmänner Zwangsarbeitende so stark drangsaliert hätten, dass sie entlassen worden waren. „Das war selbst Arado zu hart“, sagt Christian Raschke. Was besonderen Eindruck bei ihm hinterließ, war noch etwas Anderes: „Zwangsarbeit war ein alltägliches Massenphänomen, alltägliche Gewalt. Das wurde nochmal ganz deutlich“, sagt der Potsdamer. „Man kennt ja immer die Sprüche: Das haben wir nicht gewusst, das haben wir nicht gesehen.“ Nach seiner Beschäftigung mit dem Thema könne er das kaum mehr glauben.

„Zwangsarbeit hat nicht nur in den großen Rüstungswerken wie Arado stattgefunden, sondern in jeder Gastwirtschaft. In jeder Landwirtschaft, in der Kirche, in der Verwaltung, in den Stadtbetrieben – überall sind Zwangsarbeitende eingesetzt worden. Das war eigentlich nicht zu übersehen.“

Geschichte des Freiland-Geländes

Zumal die meisten Lager, in denen die Zwangsarbeitenden lebten, nicht in unmittelbarer Nähe zu den Werken gewesen seien. So auch im Fall der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter an dem Babelsberger Arado-Standort. „Die Leute mussten hin- und zurücklaufen.“ Die meisten von ihnen wurden aus der ehemaligen Sowjetunion und aus Polen deportiert. Einige kamen auch aus den Niederlanden.

„Mich hat immer interessiert, wie Geschichte und vor allem lokale Geschichte ausgesehen hat“, sagt Christian Raschke. „Die Geschichte von unten, wie ich das nenne, bleibt unterrepräsentiert. Das ist gerade in Potsdam speziell der Fall, weil hier der Fokus auf Preußen und den Schlössern und Gärten liegt.“ Zu dieser Geschichte von unten gehörten Themen wie Zwangsarbeit oder die Arbeiterinnen-Bewegung in Babelsberg, in Nowawes – alles was in der offiziellen Geschichtsschreibung untergehe.

„In diese Nischen zu schauen, fand ich immer total spannend“, sagt Christian Raschke. Gleich hinter ihm an Haus eins auf dem Freiland-Gelände liegt der Start- und Endpunkt des Rundgangs. Genau an dem Haus, wo einst die beiden Wachmänner patrouillierten, bevor sie entlassen wurden.

MAZ

Quelle: MAZ Online vom 17.07.2023
Printartikel: 2023-07-18_MAZ_AG_Geschichte_Arado-Werke.pdf (524,2 KB)

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