2023-10-07 PNN | NS-Zwangsarbeit in Potsdam: Freiland arbeitet Geschichte der Arado-Flugzeugwerke auf

NS-Zwangsarbeit in Potsdam: Freiland arbeitet Geschichte der Arado-Flugzeugwerke auf

Eine ehrenamtliche AG hat einen Rundgang mit 16 Stelen erstellt. Durch das Projekt soll das Thema Zwangsarbeit stärker ins Bewusstsein der Menschen gerückt werden.

Von Erik Wenk

09.07.2023, 12:40 Uhr

Konzerte, Partys und bunte Fassaden: Das linksalternative Freiland-Gelände in Potsdam ist heute vor allem als Ort für Jugendkultur bekannt. Doch zur Zeit des Nationalsozialismus befand sich hier ein Ort des Schreckens: Auf dem Areal lag ein Teil der Arado-Flugzeugwerke GmbH, ein offizieller „NS-Musterbetrieb“, in dem über 1000 Menschen bis 1945 Zwangsarbeit leisten mussten.

Die Holzstelen, die mit hellblauen Plaketten versehen sind, geben via QR-Code Auskunft über die NS-Geschichte der Arado-Werke.

Die Holzstelen, die mit hellblauen Plaketten versehen sind, geben via QR-Code Auskunft über die NS-Geschichte der Arado-Werke.
© Andreas Klaer

Die ehrenamtliche AG Geschichte Freiland hat diese dunkle Vergangenheit nun aufgearbeitet und einen Rundgang mit 16 Stationen erstellt: Die Holzstelen, die mit hellblauen Plaketten versehen sind, geben via QR-Code Auskunft über die NS-Geschichte der Arado-Werke. Alle Texte und Fotos sind auch unter www.arado-rundgang.de zu finden.

Zu essen gab es zweimal, morgens und abends. […] Sowohl die Erwachsenen wie auch die Kinder hatten immer Hunger.

Irina Fjodorowna Koshewnikowa, Zwangsarbeiterin in den Arado-Werken Potsdam

„Es gab schon vor vielen Jahren bei uns die Überlegung, dass man dazu mehr machen müsste“, sagt Christian Raschke von der AG, die rund ein Jahr an dem Rundgang gearbeitet hat. „Das Thema ist in Potsdam insgesamt schlecht aufgearbeitet und die Stadt erinnert nur ungenügend an dieses Thema.“ Also nahm sich die achtköpfige AG selbst der Sache an und erarbeitete den Rundgang komplett ehrenamtlich und ohne Förderung der Stadt.

Christian Raschke, Mitglied der AG Geschichte Freiland.

Christian Raschke, Mitglied der AG Geschichte Freiland.
© Andreas Klaer

Als Quellen dienten neben dem Standardwerk „Zwangsarbeit in Potsdam“ von Almuth Püschel auch Dokumente aus dem Stadtarchiv Potsdam und dem Potsdam Museum sowie aus dem „Arado-Boten“, der Werkszeitung des Rüstungsbetriebes.

Der Rundgang führt weit über das Freiland hinaus, denn das ehemalige Konzerngelände von Arado umfasste auch das heutige Areal der Märkischen Allgemeinen Zeitung (MAZ), den Arado-See und das Gewerbegebiet am Schlaatzweg.

Mahnmal „Befreiung“ aus dem Museum der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau.

Mahnmal „Befreiung“ aus dem Museum der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau.
© Andreas Klaer

Im Jahr 1936 wurde Arado verstaatlicht, die deutsche Stammbelegschaft wurde mit einer Mischung aus Freizeitangeboten und ideologischer Indoktrination auf Linie gebracht: So gab es lokale Werkfrauengruppen, Musik- und Spielmannszüge und Betriebssportgemeinschaften.

Der Arado-See sollte zur „Erholungs- und Sportstätte Gefolgschaft der Arado-Werke“ gestaltet werden, was zum Teil auch realisiert wurde: Auf einer Karte von 1945 sind eine Badeanstalt und ein Tennisplatz verzeichnet.

Solche Angebote gab es für die Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter nicht: Sie mussten unter härtesten Bedingungen schuften, waren miserabel untergebracht und immer wieder Misshandlungen ausgesetzt. „Zu essen gab es zweimal, morgens und abends. Wir bekamen 200 - 250 Gramm Brot. Die Suppe bestand meist aus Rüben und Spinat, selten aus Kohl und Kartoffelabfällen“, sagt die Zwangsarbeiterin Irina Fjodorowna Koshewnikowa in ihren Erinnerungen. „Sowohl die Erwachsenen wie auch die Kinder hatten immer Hunger.“

Nackt in Isolation gesperrt

Ein Großteil der Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter kam aus der Sowjetunion, Polen, den Niederlanden, Italien, Belgien und Frankreich. Dabei wurde zwischen „Westarbeitern“ und „Ostarbeitern“ unterschieden: Aufgrund der rassistischen Ideologie der Nazis waren letztere noch schlechter gestellt, erhielten weniger Nahrung und hatten längere Arbeitszeiten. Bei kleinsten „Vergehen“ wurden sie geschlagen oder unbekleidet in Isolation gesperrt.

Arado-Bote: Hausmitteilungen der Arado Flugzeugwerke G.m.b.H.” (1937-1944)

Arado-Bote: Hausmitteilungen der Arado Flugzeugwerke G.m.b.H.” (1937-1944)
© AG Geschichte Freiland

Untergebracht waren sie unter anderem in den Lagern „Am Brunnen“ und „Am Kleinen Exerzierplatz“, zwei der größten Zwangsarbeitslager in Potsdam. „In der Stube waren 20 bis 25 Menschen. Die Pritschen waren dreistöckig“, erinnert sich Koshewnikowa. Die hygienischen Zustände waren katastrophal: In einem Bericht der Deutschen Arbeitsfront (DAF) heißt es, das Lager „Am Brunnen“ sei „total verlaust und verwanzt“.

„Ein Bad gab es im Lager nicht. Jeder wusch sich irgendwie am Wasserhahn eines Waschbeckens oder an einer Schüssel in einer Ecke“, sagt die Zwangsarbeiterin Jewgenia Iwanowa Jewdokimowa. Die Baracken wurden regelmäßig mit Gas desinfiziert. Ihre eigene Kleidung wurde den Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern weggenommen, stattdessen bekamen sie dünne Arbeitskleidung, die sie selbst bezahlen mussten. Im Winter waren viele der Kälte schutzlos ausgesetzt.

Der Bevölkerung blieb die Zwangsarbeit keineswegs verborgen, immerhin arbeiteten 1944 mehr als 18.000 Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter in ganz Potsdam. Der tägliche Arbeitsweg aus den Lagern „Am Brunnen“ und „Am kleinen Exerzierplatz“ zum Arado-Werk führte durch die Kolonie Daheim: „Da die meisten von ihnen lediglich Holzpantinen an den Füßen trugen, war ihr Zug schon von Weitem zu hören“, heißt es in der Chronik der Genossenschaft der Kolonie Daheim.

Im Krieg wurden große Teile der Arado-Werke zerstört. Das Haus 1 des heutigen Freilands ist eines der wenigen Gebäude, das erhalten geblieben ist. Hier befand sich einst der Werkschutz des Unternehmens.

Raschke hofft, dass der Arado-Rundgang dazu beiträgt, das Thema Zwangsarbeit in Potsdam wieder stärker ins Bewusstsein zu rufen: „Der Rundgang bietet sich auch als Exkursion für Schulen an.“ In Zukunft sollen die Texte auch auf Englisch und in Leichte Sprache übersetzt werden.

Quelle: PNN Online vom 10.07.2023

Printartikel: 2023-07-10_PNN_AG_Geschichte_Arado-Werke.pdf (263,1 KB)

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