2022-10-31 PNN | Streetartist XNine „Der freie Raum ist meine Ausstellung“

Die traurigen Mädchen von XNine drücken aus, was der Streetartist, dessen Stiefsohn vor drei Jahren gestorben ist, fühlt.

© Ottmar Winter PNN/Ottmar Winter PNN

Bilder, die unter die Haut gehen: Warum in Potsdam so viele traurige Mädchen zu entdecken sind

Früher besprühte Graffitikünstler XNine Hauswände in Neuruppin. Jahrzehnte später verleiht er seinen Gefühlen in Brandenburgs Landeshauptstadt durch die Kunst Ausdruck.

Von Konstanze Kobel-Höller

10.12.2023, 11:01 Uhr

Wer genau hinsieht, entdeckt sie am Bassinplatz, am Schlaatz oder an anderen Stellen, immer ein wenig versteckt, damit sie nicht nur so im Vorbeigehen passieren: Streetart des Potsdamers XNine, der hier lieber anonym bleiben möchte. Bilder, die unter die Haut gehen und die aus dem entstehen, was der heute 49-Jährige fühlt, seit er vor drei Jahren seinen Stiefsohn verloren hat.

Erstmals zur Sprühdose gegriffen hat XNine, der ursprünglich aus Mecklenburg-Vorpommern kommt, vor 30 Jahren. Über Nacht hatte ein Besucher Hauswände in Neuruppin mit seinem Tag, also seinem Schriftzug, „verschönert“. Das fand der junge Mann so faszinierend, dass er ebenfalls mit dem Sprayen anfing.

Die traurigen Mädchen von XNine drücken aus, was der Streetartist, dessen Stiefsohn vor drei Jahren gestorben ist, fühlt. Auch im freiLand befindet sich ein Bild.

Die traurigen Mädchen von XNine drücken aus, was der Streetartist, dessen Stiefsohn vor drei Jahren gestorben ist, fühlt. Auch im freiLand befindet sich ein Bild.

© Ottmar Winter PNN/Ottmar Winter PNN

Er startete seine Graffiti-Karriere mit Tags, nannte sich damals aber noch „decoder“ – eine Referenz auf sein Faible für Zahlen. Bald folgten Entwürfe, er gestaltete Buchstaben, experimentierte mit Größen und Farben. Zehn Jahre lang verewigte er sich so im öffentlichen Raum. Damals habe er durchaus dem Klischee des Sprühers entsprochen – mit schwarzem Kapuzenpulli, sagt XNine. Schließlich findet Taggen im Verborgenen statt.

Lieber keine Party beim Sprayen

Was ihn daran gereizt hat? „Es ist spannend, den eigenen Namen zu verbreiten und einfach sichtbar zu sein“, sagt der Diplom-Elektrotechniker. Natürlich auch der Wettbewerb mit den anderen Sprayern und die Spannung, ob man erwischt wird, haben ihn gereizt. Denn Graffitis, die ohne Erlaubnis der Eigentümer der Fläche angebracht werden, sind eine Straftat. Sie können als Sachbeschädigung straf- und zivilrechtliche Konsequenzen zur Folge haben. Und so kommt es, dass XNine schon immer eher als Einzelgänger auf Tour ging. „Einmal war ich mit anderen Leuten unterwegs, die haben zwei Bierkisten mitgebracht und eine halbe Party gefeiert – das war nicht meins“, erzählt er.

XNines Arbeiten sind in ganz Potsdam zu finden.

XNines Arbeiten sind in ganz Potsdam zu finden.

© XNine

Bald fing er an, figürlich zu arbeiten, besuchte sogar Zeichenkurse, doch diese Arbeiten sollten vorerst in der Mappe bleiben. Öffentlich wurden in den ersten zehn Jahren nur seine Schriftzüge – und auch damit war 2004 erst einmal Schluss, als sein Sohn geboren wurde: XNine hörte schlagartig mit dem Sprayen auf. Als Vater habe er das Gefühl gehabt, angepasster leben zu müssen. „Im Nachhinein finde ich das schade“, sagt er heute.

Man entdeckt auch hier in Potsdam neue Sachen – und Bilder, die verschwunden sind.

XNine, Graffiti-Artist aus Potsdam.

Weitere zehn Jahre dauerte es, bis er wieder mit dem Sprayen anfing und schließlich fiel auch der Entschluss, seine figürlichen Bilder in der Stadt zu verbreiten: „Damit die Leute Zugang dazu haben.“ Meist hat XNine schon eine große Idee im Kopf, wenn er sich an eine neue Arbeit macht.

XNines Bilder sind oft nicht offensichtlich angebracht.

XNines Bilder sind oft nicht offensichtlich angebracht.

© XNine

Die Bilder entstehen zu Hause, meist auf Sperrholz- oder Kunststoffplatten, mithilfe von Sprühdosen, Markern und Pinseln. Fertige Werke werden mit Silikon, Montagekleber oder Holzleim und Schrauben am Untergrund befestigt. Seit 2014 hat er an die 23 Bilder aufgehängt, so etwa am Bassinplatz, am „Plattenspieler“ in Potsdam-West, mehrere im Schlaatz und im Lindenpark – meist ein bisschen versteckt.

Die Bilder von XNine drücken aus, was er empfindet.

Die Bilder von XNine drücken aus, was er empfindet.

© XNine

„Manche sind am nächsten Tag übermalt, andere bleiben zwei Monate“, sagt der Streetartist. Leider gebe es – anders als früher – keinen Codex unter den Sprayern mehr, gute Bilder nicht zu übersprühen. „Teilweise werden Sachen übermalt, wo man sieht, da hat sich etwas entwickelt, da ist etwas gereift“, sagt der 49-Jährige.

Für mehr legale Graffiti-Flächen in Potsdam

Illegal sprayt er heute nicht mehr. „Ich brauche diesen Nervenkitzel einfach nicht mehr.“ Stattdessen würde er sich wünschen, dass mehr Flächen freigegeben würden. „Es gäbe so viele Möglichkeiten und es wäre eine große Bereicherung für die Menschen der Stadt.“ Er bedauert, dass es nur wenige figürliche Bilder in Potsdam gibt. Überhaupt sei die Sprayer-Szene in der Stadt überschaubar. Doch mindestens zweimal in der Woche geht er bewusst ins freiLand, um zu sehen, was sich verändert hat. „Man entdeckt auch hier in Potsdam neue Sachen – und Bilder, die verschwunden sind.“

Die Bilder von XNine haben auch mit dem Tod seines Stiefsohnes zu tun, der hier rechts angedeutet ist.

Die Bilder von XNine haben auch mit dem Tod seines Stiefsohnes zu tun, der hier rechts angedeutet ist.

© XNine

Seine Bilder haben einen hohen Wiedererkennungswert, die traurigen Mädchen mit den großen Augen, die an japanische Manga-Comics erinnern. Sie seien ganz klar ein Tribut an den vor drei Jahren verstorbenen Stiefsohn, räumt er ein. „Die Kommentare, die unter meine Instagram-Bilder geschrieben werden, drücken aus, was ich so fühle“, sagt er. Aber werden die Bilder auch einmal fröhlicher? „Ja, muss. Ich habe auch schon ganz konkret etwas im Kopf“, sagt XNine. „Eine Idee, die sich durch einen Kommentar ins Hoffnungsvolle geändert hat.“

Beworben hat er seine Arbeiten noch nicht, auch wenn er über die sozialen Medien Rückmeldungen aus Frankreich oder Südafrika bekommt. „Es ist ein Hobby. Es sind sehr intime und private Dinge, die die Leute berühren“, sagt der Potsdamer. Im Moment sei ihm nicht danach, die Sachen auszustellen. „Der freie Raum ist meine Ausstellung“, sagt er.

Quelle: PNN / Tagesspiegel Online vom 12.10.2023

2023-12-11_PNN_XNine_Frontpage.pdf (251,6 KB)
2023-12-11_PNN_XNine_Artikel.pdf (174,2 KB)

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