2016-10-05 PNN Neustart mit Malerei

Neustart mit Malerei

Kunst statt Kiffen. Martin ist beeindruckt von den Bildern der gegenwärtigen Ausstellung. Zu Hause malt er selber, bei Frust hilft ihm Kunst jetzt besser als Kiffen. Foto: Andreas Klaer

Im Kunsthaus Sans Titre leisten straffällig gewordene junge Menschen soziale Arbeit. Martin lernt hier Künstler kennen, betreut Besucher und macht wieder Pläne für sein eigenes Leben.

Potsdam - Mit leichtem, schnellen Schritt durchquert Martin* den Raum und schnippt mit einem mehrfachen Klacken an der hinteren Wand das Licht an. Es wird hell im Obergeschoss des Kunsthauses Sans Titre. Das ist gut, sonst würde man womöglich über die Objekte auf dem Boden stolpern und das Bild aus Hunderten zurechtgeschnitzten Steinchen zerstören. Martin hockt sich hin und betrachtet den Haufen Steine. „Ich glaube, ich würde sogar sehen, wenn da einer fehlt“, sagt Martin.
Dabei ist gar nicht er der Künstler, sondern ein Mitarbeiter, noch dazu ein temporärer, denn Martin leistet hier soziale Arbeit, zu der er verurteilt wurde. Jetzt betreut er Besucher der Ausstellung, schließt morgens das Haus auf, macht Licht, macht sauber und erklärt die Kunst. Derzeit „Between black and white/Borderless“, eine Ausstellung chinesischer Künstler, Objekte, Installationen und Malerei. Martin war dabei, als sie aufgebaut wurde und mancher Künstler noch vor Ort an seinen Bildern malte. „Die Chinesen haben viel Geduld, die sitzen tagelang an einem Bild. Die Geduld hätte ich nicht.“

Geldstrafe mit sozialer Arbeit abgearbeitet
Geduld hatte Martin auch damals nicht mit sich selbst und der Welt, als seine Hand nach der schlimmen Schnittverletzung nicht heilen wollte, als er sich in der Potsdamer Klinik den Krankenhauskeim einfing und die Ärzte die rechte Hand amputieren wollten. „Da bin ich ausgetickt und aus dem Krankenhaus abgehauen“, sagt er. Er begann Drogen zu nehmen und klaute im Kaufhaus, bis er erwischt wurde. Weshalb er nun eine Geldstrafe mit sozialer Arbeit abarbeitet – im Kunsthaus Sans Titre.
Dabei kommt er aus der Gastronomie, hat Koch gelernt, in großen Hotels in der Region und im Ausland gearbeitet. Dann aber kamen diese drei Jahre, in denen alles schieflief. Die Sache mit der Hand machte ihn fertig, die Freundin gab ihm den Laufpass. Er lag nur noch zu Hause rum, kiffte und lebte von Hartz IV. Das wird jetzt anders, ist er überzeugt. Er will wieder eine Arbeit finden, weg vom Amt.

Gemeinnützige Vereine und Einrichtungen kommen infrage
Eine große Hilfe ist die Tätigkeit im Kunsthaus. Vermittelt hat die Stelle sein Bewährungshelfer Matthias Rump. „Dafür kommen alle gemeinnützigen Vereine und Einrichtungen infrage“, sagt Rump. Er schickt Klienten in Kitas und Jugendklubs, Sekiz, Freiland, Lindenpark oder zum Verein Soziale Stadt. Aber als Rump einen Hausbesuch bei Martin machte und er dessen eigene Bilder und Zeichnungen an den Wänden sah, dachte er gleich an das Kunsthaus. „Martin hat ein künstlerisches Talent, das passt.“
Seit etwa vier Jahren arbeiten immer wieder straffällig gewordene junge Erwachsene im Kunsthaus. „Die haben mich hier ohne Vorurteile aufgenommen. Ich merke, dass sie meine Arbeit schätzen und mir vertrauen“, sagt Martin. Mikos Meininger, Künstler und Mitgründer des Kunsthauses, habe ihn sogar auf die Probe gestellt und ein paarmal Geld offen rumliegen lassen auf dem Tresen. Das hat Martin aber erst viel später gemerkt.

Es tut gut, eine Perspektive zu haben
„Wir haben meist gute Erfahrungen mit den Leuten gemacht“, sagt Meininger. Das Besondere am Kunsthaus: Hier gibt es für die wenigen Mitarbeiter wirklich viel zu tun, die Klienten müssen richtig mit anfassen und eigenverantwortlich arbeiten – je nach Eignung. Während manche eher handwerklich oder im Außenbereich arbeiten, hilft Martin auch beim Hängen der Bilder, spachtelt nach der Ausstellung Löcher in den Wänden zu, erklärt den Besuchern die Kunst. Er hackt Holz für den Ofen, geht einkaufen für die Vernissage, schleppt Getränke ran und steht dann auch mal hinterm Tresen.
Manchmal zeigt er Meininger seine eigenen Bilder und der Maler gibt ihm Tipps, stellt ihm eine Leinwand hin, an der er sich ausprobieren kann. Martin, 28 Jahre alt, hat wieder Pläne. Er hat eine Wohnung und eine neue Freundin. Er malt viel. Er könnte sich sogar eine Arbeit im künstlerischen Bereich vorstellen. Meininger sagt: „Wir bleiben mit den meisten der Leute in Kontakt. Manchmal kommen sie später und suchen Rat für eigene künsterlische Projekte.“ Martin bleibt auch jetzt schon mal freilwillig länger im Kunsthaus, wenn es noch was zu tun gibt. Eine Perspektive zu haben, das tut gut.

Martin hat noch was vor im Leben
Es geht ihm auch besser, weil die Ärzte der Charité die Hand wieder hinbekommen haben, sodass er bis auf den kleinen Finger wieder greifen kann. Irgendwie ein Wunder, sagt Martin, und wenn er weiter Physiotherapie macht, kann er vielleicht eines Tages sogar wieder ein Messer festhalten und zurück in seinen Beruf.
Bewährungshelfer Rump hofft, dass Martin das alles so hinkriegt, wie er es sich vorstellt, und nicht wieder rückfällig wird. Die Voraussetzungen sind gut. Mit Hilfe der sozialen Arbeit hat Martin zum Beispiel auch zu einem normalen Tagesrhythmus zurückgefunden, Pünktlichkeit ist eine wichtige Sekundärtugend, sagt Rump. Demnächst wird er sich beim Arbeitsamt vorstellen. „Dann gehts los mit Bewerbungen schreiben“, sagt Martin. Weil er noch was vorhat im Leben, will er auch seinen richtigen Namen nicht nennen. Sollte ihn hier in Potsdam jemand erkennen, wäre das nicht so schlimm. Aber dass ein späterer Arbeitgeber vielleicht Informationen über ihn im Internet sucht und dabei herausfindet, dass er mal straffällig war – das müsse nicht sein.
Wenn Martin fertig ist, kommt gleich der nächste junge Mann ins Sans Titre. Jemand, den Meininger aufgrund seiner Biografie als eher schwierig und gewaltbereit einschätzt. „Aber wer soll ihn denn nehmen, wenn nicht wir?“, habe er sich gedacht.

  • Name geändert
    Von Steffi Pyanoe

http://www.pnn.de/potsdam/1119251/
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