2016-05-07 PNN Ganz leise, ganz laut

Ganz leise, ganz laut

Dirk Bernemann und No Surprising News beim „Acoustic Café“
„Ich hab die Unschuld kotzen sehen“, betitelte Autor Dirk Bernemann einst, 2005 war das, seine zynische Abrechnung mit der Gesellschaft. Das Buch wurde schnell Kult, barg diese emotionale Kälte doch reichlich Identifikationspotenzial – ein Standardwerk für die Entwurzelten, die Ausgebrannten. Die Negation des gesellschaftlichen Scheins brachte Bernemann in seinem Finger-in-den-Hals-Roman „Satt. Sauber. Sicher“, der direkt an sein Debüt anschloss, noch mehr in Wallung. Bücher, die sich lesen wie saure Übelkeit sich anfühlt.
Am Donnerstagabend war Bernemann im „Acoustic Café“ im Haus Zwei auf dem Freiland-Gelände zu Gast, zum Tourauftakt mit der One-Man-Band No Surprising News, hinter der sich Robert Müller verbirgt – beide sind alte Bekannte, die nächsten Tage werden sie weiter durch Deutschland und Österreich touren. Und sie ergänzen sich ganz vortrefflich: Es gibt keinen Hauptact, sondern Bernemann und Müller wechseln sich ab, es ist Lesung und Konzert zugleich. Eine ganz und gar mitreißende Fusion gelingt dadurch.
Aber vielleicht liegt es auch daran, dass Dirk Bernemann erwachsener geworden ist, und auch ein wenig milder. In seinem neuen Buch mit dem tief lyrischen Titel „Vom Aushalten ausfallender Umarmungen“ findet sich keine nihilistische Schaumschlägerei mehr, keine Blut-und-Kotze-Schlammschlacht – das Ausbleiben dieser galligen Stilistik wirkt jedoch umso nachhaltiger. Bernemann knüpft ganz bewusst an sein Erstlingswerk an, zwölf Kurzgeschichten, die zunächst nichts miteinander zu tun haben, sich aber episodenhaft zu einem großen Ganzen fügen. Er liest mit leiser Stimme, klammert sich mit beiden Händen an sein kleinformatiges Buch – und schafft trotzdem eine bedächtige Stille bei den Besuchern, indem er seine Charaktere mit einer ungeahnten, fast sehnsüchtigen Zärtlichkeit skizziert. Karin etwa: „Karin denkt manchmal fünf Jahre weiter und sieht sich einen Kinderwagen schieben, aus dem ein Lachen schallt, dessen absondernder Mensch seine Lage kaum aushält vor Glück.“ Oder Judith: „So ein bisschen in die Wärme eines anderen kriechen, um sich mit dessen Körper zuzudecken, denn die Zeiten werden schlechter und nichts ist echter als eine Umarmung.“
Dabei hatte No Surprising News eine genauso dringende Dramatik, nur mit Gitarre und einer Lyrik, die irgendwie an Antitainment erinnerte – herausgeschriener Weltschmerz, der keiner weinerlichen Stimme des Dagegenseins benötigte. „Ich bin nicht mehr wütend“, sang er etwa: „Ich freue mich – auf Atomkrieg!“ Oder Zeilen wie: „Solange wir fressen können, ohne zu kotzen, bleiben wir moralisch flexibel.“
Ja, die Moral. Vielleicht war es das große Glück des Abends, dass die Moral zwar spürbar, aber nie mit einem Vorschlaghammer ins Publikum getrieben wurde. Denn wenn man immer nur dagegen ist, lässt sich die Welt auch nicht ändern, so verloren sich mancher auch in ihr fühlt. „Ich habe schon lange nichts Schönes mehr gelesen“, sagt Bernemann kurz vor dem Ende der Lesung. „Und ich habe mir vorgenommen, einen Text zu machen, der einfach nur positiv ist.“ Der Titel ist dann auch genauso gemeint: „Du brauchst keinen Namen, wunderschöner expressionistischer Drogentext.“ Manchmal ist die Welt eben schwer zu ertragen.
Von Oliver Dietrich

http://www.pnn.de/potsdam-kultur/1074914/
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