2015-10-17 PNN „Man sollte das paradoxe Denken pflegen“

„Man sollte das paradoxe Denken pflegen“

Der Potsdamer Fotograf Göran Gnaudschun. Foto: Anne Heinlein

Was war, was ist, was bleibt: Der Fotograf Göran Gnaudschun spricht im PNN-Interview über die Potsdamer Hausbesetzungen der 1990er-Jahre, die ironische Aneignung von DDR-Hüllen und die Utopie des Sisyphos.

Herr Gnaudschun, Sie schreiben: „Ich glaube an Bilder, weil ich weiß, dass sie lügen. Weil sie etwas anderes erzählen, als das, was vorhanden war.“ Wenn wir heute an Ihre Fotos aus den 1990er-Jahren zurückdenken: Wo lügen sie?
Ich bin Künstler, deshalb bin ich mir bewusst, dass meine Bilder immer eine Interpretation von Welt sind. Es entsteht etwas, das durch meinen Filter ging. Gemeinhin haben die meisten die Vorstellung, dass uns Fotografie die Welt zeigt, wie sie ist. Trotz allen Möglichkeiten digitaler Bearbeitung hängt das Foto extrem davon ab, wer da durch die Kamera sieht. Und der muss sich dann schon die Frage stellen: Wo gucke ich eigentlich hin? Welche Bilder wähle ich von dem, was ich gesehen habe, aus? Und warum? Letztlich ist der Satz wahrscheinlich eine Art Vorsichtsmaßnahme, um zu sagen: Traut den Bildern nicht. Obwohl ich, das scheint paradox, nur die Bilder als Medium habe, um mich auszudrücken.

Sie gehörten selber zur Potsdamer Hausbesetzerszene.
Ja, seit dem Winter 1989. In meinem Buch „Vorher müsst ihr uns erschießen“ habe ich versucht, so subjektiv wie nur möglich zu fotografieren, so dicht dran zu sein und so viel von meinem inneren Erleben mitzuteilen wie nur möglich. Das ging auch gar nicht anders, ich hatte ja überhaupt keinen Abstand zum Erlebten. Ich habe damals nicht von außen auf die Hausbesetzerszene geguckt wie auf einen Indianerstamm. Das Buch ist ein Innenblick.

Inwiefern haben Sie die Besetzungen damals als politisch empfunden?
Viele in meinem Alter hatten die Illusion, dass die DDR jetzt krachen geht und etwas Neues möglich wäre. Bis zur ersten Wahl, bis Kohl kam. Wie es dann lief, war sehr enttäuschend. Was blieb, war der Gedanke: Wir machen das jetzt im Kleinen. Probieren da aus, was wir im Großen nicht haben konnten. Andererseits dachte niemand, wie die 68er, dass wir die Keimzelle einer neuen Gesellschaft wären. Dafür waren wir nicht dogmatisch genug. Dieses unbedingte Politik-Wollen war für uns irgendwie verbrannt von der DDR. Aber einfach irgendwo sein eigenes Ding machen, das war unwahrscheinlich attraktiv. Und natürlich, dass man kein Geld zum Leben brauchte.

Es ging also nicht darum, die Fahne des Antikapitalismus hochzuhalten?
Ich kann nicht für die ganze Szene sprechen. Ich war ja nie Sprachrohr, sondern vielleicht eine Zeit lang so etwas wie subjektiver Chronist. Aber ich denke, es war beides. Einerseits die Trotzreaktion. Viele von uns wollten ein anderes Gesellschaftsmodell, einige waren auch Anarchisten, wollten gewaltfrei, herrschaftsfrei leben. Aber es war auch das einfache Sich-Ausprobieren. Es ist natürlich so, in dem Moment, wo man ein Haus besetzt, stellt man eine Prämisse der Gesellschaft infrage, nämlich das Eigentum. Das ist ein politischer Akt, auch wenn ich es nicht dezidiert so nenne.

Haben sich die Utopien heute verbraucht?
Linke Utopien haben heute kaum mehr ein Gesellschaftsmodell anzubieten, dem man folgen könnte. Darum sind ja diese ganzen Occupy-Bewegungen so baden gegangen. Alle waren gegen etwas, aber niemand wusste, wofür eigentlich. Der Begriff „Utopie“ selbst hat sich heute ins Technische gewandelt, denke ich. Man will mit Technik die Welt verändern, lässt Körper und Technik durch Prothesen zusammenwachsen, Autos sich selber fahren. Oder das Beispiel Internet: Man denkt, man könnte die Welt verändern, indem man von allen alles weiß. Manchmal glaube ich, man müsste gegen solche Utopien, die Weltverbesserung durch Technik wollen, denken. Aber Weltverbesserung durch gesellschaftlichen Zwang funktioniert auch nicht.

Warum?
Ich weiß nur, diese Welt ist extrem ungerecht, und die Folgen davon in Form von Völkerwanderungen bekommen wir gerade nur in den ersten Zügen zu spüren. Aber ich mag Camus’ „Mythos des Sisyphos“. Das habe ich Anfang der 1990er zum ersten Mal gelesen. Es muss Menschen geben, die an eine gerechtere Welt glauben – obwohl sie wissen, dass es nicht funktionieren wird. Ein Paradox. Vielleicht sollte man genau das, das paradoxe Denken, pflegen.

Sie waren in den frühen 1990ern auch Mitglied bei 44 Leningrad. In einer Zeit, als fast ganz Ostdeutschland in Richtung Westen drängte, nannte sich die Band nach einer Stadt weit im Osten, warum?
Es gab 1990 viele Leute in Ostdeutschland, die aufgrund der „freundlichen Übernahme“ das Gefühl hatten, dass sie einfach geschluckt wurden, nichts mehr zu melden hatten. Es gab Leute, die nie etwas mit der DDR gemeinsam hatten, plötzlich aber die DDR-Fahne raushängten, um zu sagen: Das, was da gerade wegbricht, ist Teil unserer Identität. Uns ging es um genau so ein widerständiges Verhalten. Es war die Zeit, in der überlegt wurde, ob Leningrad in St. Petersburg umbenannt werden soll oder nicht. Wir waren vier, und wir waren für Leningrad. Daher der Name. Und wir haben natürlich kommunistisches Liedgut zum Besten gegeben, das passte also auch. Ich habe gerade meine Gitarre wieder rausgeholt, zum Bandgeburtstag im November soll ich ja für ein oder zwei Lieder wieder auf die Bühne.

Stichwort kommunistisches Liedgut: Interessant, dass Sie nach der Wende nicht die Nase voll davon hatten.
Das war eine Form von ironischer Aneignung: Wir machen jetzt das, was überhaupt keiner mehr hören will. Das war aber in keiner Weise Grabpflege am Friedhof. Für uns war das eher so, dass wir die leeren Hüllen der Lieder mit dem füllen wollten, was wir darunter verstanden. Das Russentum war für uns eine Art zu sagen: Wir sind die Anderen. Dabei kamen wir alle aus Haushalten, die die DDR, den Staatssozialismus nicht so OK fanden. Wir wollten uns die Hüllen aneignen und Spaß haben. Tanzen auf den Ruinen. Ohne dass wir damit sagen wollten: Eigentlich würden wir jetzt statt auf Gitarren zu spielen lieber mit Russenpanzern über den Ku’damm fahren.

Hat der Kommunismus heute noch eine Wirkung als Utopie?
Für spätere Generationen vielleicht. Dadurch, was über die Straflager und dergleichen bekannt geworden ist, sind wir erst mal davon geheilt. Ich würde mich heute als links beschreiben, aber nicht im Sinne von kommunistisch, sondern eher libertär. Mit meiner Frau mache ich gerade eine Arbeit,in deren Rahmen wir viel in der BStU-Behörde sind. Das hat meinen Blick auf die DDR ziemlich geändert. Ich kannte die DDR, bis ich 18 war, und für mich war sie immer so eine Art Faschingsveranstaltung, eigentlich ein zahnloser Tiger. In den Stasiakten wird aber der absolute Wille zur Macht und Überwachung deutlich. Die wussten genau, dass sie den Großteil der Bevölkerung gegen sich hatten, haben sich aber immer anders inszeniert. Wenn man sich damit beschäftigt, ist man irgendwann immun dagegen.

Immun auch gegen Ostalgie?
Eine schwierige Frage. Einerseits ist der Osten Teil meiner Identität. Viele behaupten, Nord, Süd, Ost, West, das alles sei das Gleiche. Ich fühle mich dann immer wie eingemeindet. Ich habe eine andere Sozialisation, bin unter anderen Wertvorstellungen aufgewachsen, bin anders geprägt und komme aus einem Land, das es nicht mehr gibt. Das hat aber nichts mit einer Kati-Witt-Ostalgie zu tun. Ich habe seit ein paar Jahren das Gefühl, dass sich viele Leute hinter ihre Schützengräben zurückziehen und sich mit ihrer Meinung nicht mehr gern hervorwagen. Aus Bequemlichkeit oder Opportunismus heraus. Und vielleicht ist das Teil meiner Sozialisation, dass ich mit Opportunismus nicht mehr umgehen möchte.

Gleichzeitig gibt es im Zusammenhang mit den Flüchtlingen, die auch nach Potsdam kommen, gerade eine Art von Engagement wie schon lange nicht mehr, oder?
Ja, das hätte ich nie gedacht. Vor allem weil das Bild von Ostdeutschland davor von Phänomenen wie Pegida geprägt war. Es gibt eben immer wieder Überraschungen, die zeigen: Die Menschen sind gar nicht so schlecht, wie man dachte.

Das Gespräch führte Lena Schneider

ZUR PERSON: Göran Gnaudschun wurde 1971 in Potsdam geboren. Studiert hat er künstlerische Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Heute lehrt er selbst – unter anderem an der Universität sowie an der Fachhochschule Potsdam.

http://www.pnn.de/potsdam-kultur/1015710/
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