2022-04-15 MAZ Artem Volokitins Flucht aus der Ukraine nach Potsdam

Artem Volokitins Flucht aus der Ukraine nach Potsdam

Der ukrainische Künstler Artem Volokitin ist mit seiner Familie aus Charkiw vor Putins Krieg geflogen. In Potsdam versucht er zur Ruhe zu kommen.

Der ukrainische Künstler Artem Volokitin mit Ehefrau Tatyana und Sohn Kolya, dem jüngsten seiner fünf Kinder in Potsdam.|100%x100%

Der ukrainische Künstler Artem Volokitin mit Ehefrau Tatyana und Sohn Kolya, dem jüngsten seiner fünf Kinder in Potsdam. Quelle: Detlev Scheerbarth

Potsdam

Artem Volokitin wird in diesem Jahr zweimal Ostern feiern. Morgen und am kommenden Wochenende. Denn die orthodoxen Ostern sind eine Woche später. Und Volokitin stammt aus der Ukraine. Mit seiner Familie ist er vor dem Krieg nach Potsdam geflohen.

„Wir sind nicht religiös, aber wir werden für die Kinder Eier und Schokolade kaufen und mit Freunden zusammensein“, sagt er – und mitten im Satz zuckt er zusammen, als ein Hubschrauber über das Freiland-Gelände in der Friedrich-Engels-Straße fliegt. Es sind die Erlebnisse der vergangenen Wochen, die wie Blitze bei ihm einschlagen. „Solche Geräusche lösen bei mir sofort Angst aus“, sagt der 40-jährige Künstler mit verzerrter Mimik.

Bekannter zeitgenössischer Künstler aus der Ukraine

Artem Volokitin gehört zu den bekanntesten Vertretern der zeitgenössischen Kunst in der Ukraine. Seine Bilder waren in den vergangenen Jahren weltweit zu sehen, auf Ausstellungen in London, New York, Köln oder Wien. 2015 war er im Ukrainischen Pavillon auf der Biennale in Venedig vertreten. Seine jüngsten Arbeiten – „fast fertig“, wie er sagt – stehen in seinem Atelier im Zentrum von Charkiw. Freunde hätten ihm berichtet, dass alles noch so sei, wie er es verlassen hat. Aber wie lange noch? Bei den Nachbarn ist ein Geschoss durchs Dach gekracht. Wann werden Putins Geschütze bei ihm einschlagen?

Artem Volokitin: Unumkehrbare Schönheit|100%x100%

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Der ukrainische Künstler Artem Volokitin malte in frühen Jahren hyperrealistische Bilder in neobarockem Stil. Seit 2014 beschäftigt ihn das vor allem das Licht. In dieser Zeit entstanden, nicht zuletzt durch den Krieg im Osten seiner Heimat, auch Gemälde von Bombenexplosionen. Die MAZ zeigt ein paar Beispiele.

Artem Volokitin wollte das jedenfalls nicht miterleben. Noch bevor die ersten Panzer rollten, hat er Charkiw mit seiner Frau und den fünf Kindern verlassen und ist zu seinen Eltern aufs Land geflohen. Zwei Wochen blieben sie. Doch auch dort wurde es bald unerträglich. „Anfangs war das noch wie Kino“, erzählt Volokitin über die ersten Tage, als die Explosionen noch weit in der Ferne zu hören waren.

Aber irgendwann zersprangen die Fenster, bebte der Boden. Der Krieg wurde bittere Realität. „Du spürst die Druckwellen auf den Ohren und in der Brust, fängst an zu zittern, benimmst dich wie ein verängstigtes Tier“, so der Familienvater. Sie seien nur noch angezogen zu Bett gegangen. Nachdem sie schließlich einige Tage im Keller verbracht hatten, hätten sie beschlossen, das Land zu verlassen. Und die Eltern, die nicht mitkommen wollten.

Der Krieg hat ihn depressiv gemacht

Volokitin durfte das. Als Vater von fünf Kindern ist er vom Militärdienst befreit. Aber wohin? Freiburg oder Potsdam – denn dort haben sie Freunde. Fast 14 Tage waren sie unterwegs. Quer durch die Ukraine – über Dnipropetrowsk, Olexandrija, Tulchin nach Moldavien und von dort über Rumänien, Ungarn und Österreich nach Deutschland. In der Ukraine seien sie nur langsam vorangekommen. Sie konnten nur tagsüber fahren. Denn in der Nacht seien überall Ausgangssperren verhängt. „Und in den Wäldern stehen Panzer, von denen man nie wissen kann, zu wem sie gehören“, sagt Ehefrau Tatyana Malinowskaya.

Artem Volokitin hat in Potsdam im Kulturzentrum „Freiland“ einen Atelierplatz gefunden.|100%x100%

Artem Volokitin hat in Potsdam im Kulturzentrum „Freiland“ einen Atelierplatz gefunden. Quelle: Detlev Scheerbarth

Irgendwann waren sie durch. Und an der deutschen Grenze war es entschieden: Potsdam. Hier kann Volokitin inzwischen wieder malen. In einem Gemeinschaftsatelier im Freiland wurde für ihn eine Ecke freigeräumt. Er wirkt entspannt, sobald er Pinsel und Farbe in die Hand nehmen kann. „Ja“, sagte er, „dann bin ich bei mir, dann fühle ich mich zuhause.“ Erstmals seit langem habe er wieder zehn Stunden am Stück arbeiten können. Das habe gutgetan. Denn der Krieg habe ihn depressiv gemacht.

Volokitin malt hyperrealistische Bilder

Ein Teil von Volokitins Ölgemälden befindet sich halbwegs in Sicherheit – im Yermilov Centre von Charkiw, einer Galerie für zeitgenössische Kunst, die sich in einem Bunker unter der Universität befindet. Andere lagern in ausländischen Depots. Es sind größtenteils hyperrealistische Bilder, die Volokitin in traditioneller Maltechnik anfertigt.

Anfangs malte er Porträts, von Frauen, Männern, Teenagern. Mal nur die Gesichter, mal die komplette Gestalt – häufig sind es Akte, die die Menschen fast wie fotografiert erscheinen lassen. Doch irgendwo ist meist etwas Verstörendes, Verfremdetes eingebaut. Mal ist es im Hintergrund die Tapete in sowjetischem Design, die nicht wirklich passt, dann sind es die Möbel, die wie aus einer anderen Welt zu stammen scheinen. Ein von Volokitin gemalter Atlas trägt nicht die Welt auf seinen Schultern, sondern einen Tisch, „weil ein Familienvater dafür sorgen muss, dass alle satt werden“, sagt der Künstler.

Es sind fast barocke Figuren, die auf Volokitins frühen Gemälden anzutreffen sind. Noch auf der Serie „Triumph“ aus den Jahren 2011-2013 fügt er Männer in Badehosen in artistischen Posen zu Skulpturen aus Menschenmaterial zusammen. Es sind unpersönliche Gestalten, die sich offensichtlich verbiegen – unter welchen totalitären Anforderungen auch immer.

Geburtstag zu Ostern

Artem Volokitin zählt zu den bekanntesten zeitgenössischen Künstlern der Ukraine.

Der 1981 in Chuguev in der Region Charkiw geborene Maler ist kurz nach Kriegsbeginn mit seiner Frau, der Künstlerin und Kuratorin Tatyana Malinovskaya, und fünf Kindern nach Potsdam geflohen.

Am orthodoxen Ostersonntag, dem 24. April, also eine Woche nach den hiesigen Ostern, feiert Volokitin seinen 41. Geburtstag.

Doch um das Jahr 2014 dann der Bruch. Die Abkehr von der Figürlichkeit. Volokitin beginnt das Licht zu malen. Licht, das auf Pflanzen in Gärten trifft. Licht, das am Horizont hinter Wolken hervorbricht. Es entstehen Bilder, die das Farbenspektrum auffächern, die Lichtstrahlen bunt explodieren lassen und Effekte auslösen, wie man sie erfährt, wenn man die Augen fest zukneift bis es schmerzt, oder ungeschützt voll in die Sonne schaut.

Bombenexplosionen kann Volokitin nicht mehr malen

Es ist aber auch die Zeit, in der der Krieg zum ersten Mal in das Leben von Artem Volokitin einbricht. Die Zeit nach der Maidan-Revolution, als Putin die Halbinsel Krim besetzen lässt, von wo seine Frau stammt, und der Beginn der Kämpfe im Donbass. Volokitin malt großformatige Bombenexplosionen – farbenprächtig, gewaltig. „Schönheit tödlicher Unumkehrbarkeit“ hat er diese Bilderserie genannt. „Ich wollte zeigen, welche Gefahr das Schöne mit sich bringen kann“, sagt er.

Aber es war ein Blick auf das Grauen des Krieges aus sicherer Entfernung. Wie im Kino eben. Eine hyperrealistische Darstellung von Bombenexplosionen. Mittlerweile haben Artem Volokitin und seine Familie den Krieg am eigenen Leib erfahren. Das wird auch seine Kunst verändern. Das Licht fasziniert ihn weiterhin. „Aber so, wie damals kann ich heute nicht mehr malen“, sagt er. Und wie dann? In seiner Atelierecke im Potsdamer Freiland entstehen gerade erste Skizzen.

Von Mathias Richter

Quelle: MAZ vom 15.04.2022

2022_04_15_MAZ_Artem_Volokitin.pdf (4,8 MB)

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