2016-07-21 PNN Graffiti in Kirgisistan

Graffiti in Kirgisistan

Beim zweiten „Streetopia“-Festival im Freiland geht es um Streetart weltweit und um Hip-Hop-Musik
Entspannt zu Hip-Hop-Klängen herumsitzen, den Geruch von frischer Farbe im Wind – ab dem morgigen Freitag kann man das wieder auf dem Freiland-Gelände in der Friedrich-Engels-Straße machen: Zum zweiten Mal findet dort dann das „Streetopia“-Festival statt. Halt – eigentlich zum sechsten Mal, wenn man das Vorgängerformat „Sub’n’Youth Culture“ mit seiner breit gefächerten musikalischen Auswahl mitrechnet. Die Metamorphose begann im letzten Jahr, als die Zusammenkunft plötzlich mit dem griffigen Namen “Streetopia“ stattfand und sich auf Hip-Hop und Streetart mit Beats, Raps und Graffiti spezialisierte. Mit Erfolg: Das Festival, das dank der Förderung von Stadt und den Fachschaften der Uni bei freiem Eintritt stattfindet, bekommt mittlerweile weltweit Aufmerksamkeit.
Nun ist Streetart ja eine vergängliche Kunst, sodass es den launig gestalteten Wänden im Freiland nun wieder an den Kragen geht – Kunst mit Halbwertszeit, die sich jedes Jahr erneuert. Das mag schmerzhaft für diejenigen sein, die sich etwa an die Unterwasserwelt an der Außenwand des Clubs Spartacus gewöhnt haben, aber der Kreativität von beinahe 40 Sprühern aus Kirgisistan, der Slowakei, Deutschland und Österreich sind wie immer keine Grenzen gesetzt. Es wird also wieder einen neuen Look geben.
Graffiti als Kunstform ist immer noch eine Männerdomäne, genauso wie im Hip-Hop. Das soll dieses Jahr ganz bewusst aufgebrochen werden: „Wir haben im Musik- und Graffitibereich ganz bewusst nach Frauen gesucht“, sagt „Streetopia“-Mitorganisatorin Nelli Nickel. Die seien nämlich immer noch unterrepräsentiert – zu Unrecht. Mit ein wenig Stolz wird da auch angekündigt, dass dieses Jahr etwa die tschechische Graffiti-Künstlerin Sany mit an Bord ist, die in sieben Jahre langer Arbeit einen Dokumentarfilm über Sprayerinnen weltweit gedreht hat, die sich vorwiegend im illegalen Milieu bewegen – in Kapstadt, in Moskau, in New York und Sydney. Im Februar hatte der Film in Prag Premiere, seitdem ist Sany damit weltweit auf Tour. Und am Samstag um 20 Uhr im Freiland.
Aber es gibt natürlich auch Musik, und zwar in der „TaktartLounge“, die vom Potsdamer Produzenten und DJ Greg Dhilla bespielt wird. Gäste kommen aus Potsdam, wie Camufingo, der am Freitag rappen wird, und am Samstag aus Köln – mit Leila Akinyi etwa, die als schwarze Sängerin ein Territorium erobert, das von weißen Männern dominiert wird. Akinyi jongliert dabei textgewandt mit den gängigen Vorurteilen, die sie in einen ironischen Kontext bringt. Ein Highlight auf jeden Fall, und wichtig, sagt Nelli Nickel: „Klar, das Thema ist ja immer aktuell – jetzt aber ganz besonders.“
Für die Cineasten unter den Besuchern findet im Haus 2 unterdessen das „Graffiti Cinema“ statt, mit Dokumentarfilmen, etwa über die Sprayerszene in Afghanistan, aber auch über die deutsche: So zeigt Filmemacher Stefan Pohl seine Doku „Hello my name is“, in der er 15 verschiedene Künstler porträtiert, von „Trainsprayers“ über Galeristen bis zu Anwälten. Aber das „Streetopia“ hat auch seinen eigenen Ausflug in bewegte Bilder fassen lassen: Im vergangenen Jahr ging es nach Kirgisistan, der Film über die Fahrt nach Bischkek hat am Wochenende Premiere.
Für Nelli Nickel ist der Graffiti-Roadtrip nach Kirgisistan immer noch etwas, was ihr Herz höher schlagen lässt, wenn sie davon erzählt. In der Boom-Schlucht nahe der Hauptstadt Bischkek steht eine 14 Meter hohe Geröllschutzmauer, 700 Quadratmeter Betonfläche, die letztes Jahr durch Graffiti künstlerisch gestaltet werden sollte. „Ich habe die Wand gesehen und dachte: Oh mein Gott! Hier wird jemand sterben!“, sagt sie. Nur ein provisorisches, nicht gesichertes Gerüst wurde da hochgezogen, auf dem die Künstler arbeiten sollten. Ihr erster Impuls sei gewesen, alles abzusagen, aber ein Jahr wurde auf dieses Ereignis hingearbeitet – also wurde das Risiko schließlich in Kauf genommen.
Kirgisische und deutsche Künstler schafften dort ein gigantisches Wandbild, das die kirgisische Tradition in Form von Steinskulpturen in einen frischen, farbigen Kontext bringen sollte. Letztlich wurde die Aktion zu einem Politikum: Jedes Graffiti sollte beurteilt und notfalls zensiert werden, die Künstler wurden bedroht, es gab Pressekonferenzen, kirgisische Nationalisten witterten eine Bedrohung – immerhin war es kurz vor der Parlamentswahl. Für die Künstler endete die Geschichte leidlich: Nachdem sie ihr Leben für die Kunst riskierten, wurde das fertige Werk schließlich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit Farbe zerstört und steht so heute noch. Die Erinnerung daran kann ihnen jedoch keiner mehr nehmen: „Ich wurde von kirgisischen Polizisten gezwungen, Wodka zu trinken“, erzählt Nelli Nickel etwa. Und vielleicht ist das ja eine Szene des Films geworden.
Von Oliver Dietrich

http://www.pnn.de/potsdam-kultur/1097322/
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