2016-06-08 PNN Reise ins Durcheinander

Reise ins Durcheinander

Trostlos. In Lager wie dieses in einer verlassenen Fabrik bei Thessaloniki wurden die Flüchtlinge aus Idomeni gebracht. Doch nur etwa die Hälfte der 8500 Menschen war bei der Räumung überhaupt in die Busse der Regierung gestiegen – der Rest ist stattdessen in wilde Camps gezogen und wartet dort auf eine Weiterreise nach Nordeuropa. Foto: Sakis Mitrolidis/AFP

Mehrere Potsdamer sind derzeit in Griechenland, um Flüchtlingen zu helfen. Sie berichten von Missständen und Chaos – und einer Insel der Ruhe.
Als Franziska Kusserow in Griechenland an ihr Handy geht, sitzt sie gerade im Auto. Der Kofferraum ist voll mit Lebensmittelspenden, am Steuer sitzt ein Freund aus Potsdam. Sie fahren über eine Landstraße, aus Angst vor Polizeikontrollen auf der Autobahn. Die Lebensmittel wollen sie in eines der wilden Flüchtlingscamps an der Grenze zu Mazedonien bringen, die seit der Räumung des Lagers in Idomeni entstanden sind. Doch sie befürchten, dass sie nicht weiterfahren dürften, würde der Inhalt ihres Kofferraums entdeckt. Denn die griechischen Behörden wollen keine wilden Lager mehr – und keine Hilfe für die Menschen mehr dort.
Das hat Franziska Kusserow und ihre Mitstreiter aus Potsdam nicht davon abgehalten, vor gut eineinhalb Wochen nach Nord-Griechenland zu reisen. Schon in Potsdam haben sie sich für Flüchtlinge engagiert, die meisten in der Erstaufnahmeeinrichtung an der Heinrich-Mann-Allee. Franziska Kusserow macht gerade ein Jahr Bundesfreiwilligendienst bei der Potsdamer Stadtverwaltung, die anderen sind Studenten, arbeiten in der Krankenpflege oder im sozialen Bereich.

Viele illegale Camps an der Grenze
Eigentlich wollten sie nach Idomeni reisen, wo Tausende Flüchtlinge teils mehrere Monate lang auf eine Weiterreise nach Nordeuropa warteten. Doch seit das Lager Ende Mai geräumt wurde, wird die Hilfe anderswo benötigt: in den neuen Lagern der griechischen Regierung und den vielen inoffiziellen Camps, die entlang der Grenze entstanden sind.
Nach Griechenland gekommen sind die Potsdamer mit dem Flugzeug, am 30. Mai landete es in Thessaloniki. Von dort ging es mit einem Mietwagen nach Polikastro ins Park Hotel, das sich zu einer Art Hauptquartier für die internationale Freiwilligenszene entwickelt hat. Jeden Abend findet dort ein Treffen statt, um die Hilfe für die Flüchtlinge zu koordinieren – das haben auch die Potsdamer genutzt. „Dort haben wir ein bisschen die Struktur kennengelernt und uns mit anderen Helfern ausgetauscht“, so Franziska Kusserow.

Potsdamer Aktivisten helfen dort, wo es gerade am dringendsten ist
Chaotisch sei die Situation trotzdem, vor allem weil seit der Räumung von Idomeni alles im Umbruch sei. Immer wieder machen Gerüchte unter Helfern die Runde – etwa welches Lager wann geräumt werden soll. Die Potsdamer Gruppe hat sich gleich zu Beginn zerstreut, jeder hilft dort, wo es gerade am dringendsten ist. Teils bieten sie ihre Hilfe Organisationen an, die schon länger vor Ort sind, teils machen sie sich auf eigene Faust auf den Weg. Untergekommen sind manche in günstigen Hotels, andere in Zelten direkt in den Camps. Franziska Kusserow hat zum Beispiel schon im sogenannten Eko-Camp geholfen, das auf dem Grundstück einer gleichnamigen Autobahntankstelle entstanden ist.
Auch in einem offiziellen Flüchtlingslager der Regierung in der Nähe von Thessaloniki war die 34-Jährige, es wird vom Militär geführt. Die Situation dort sei furchtbar gewesen, berichtet sie. Die Flüchtlinge seien alle zusammen in einer riesigen sterilen Halle untergebracht. Rundherum sei Schilf, weshalb die Menschen von Mücken regelrecht zerfressen würden. Außerdem sei in der Nähe die Kläranlage von Thessaloniki, sodass ständig ein beißender Gestank über dem Lager hänge. Von anderen Helfern hat sie gehört, dass die Menschen auch extrem schlecht mit Dingen des täglichen Bedarfs versorgt werden. So gebe es zum Beispiel für Babys nur eine Windel pro Tag.

„Die Menschen hungern dort“
Als Franziska Kusserow in das Militärcamp kam, wurde sie zur Essensausgabe eingeteilt – offenbar waren das die ersten Nahrungsmittel seit Tagen, die verteilt wurden. „Die Menschen hungern dort“, sagt sie. Essen ausgegeben hat sie letztlich nicht, andere Helfer waren schneller. Es ist nicht leicht, den Einsatz der Freiwilligen so zu koordinieren, dass immer dann Menschen vor Ort sind, wenn gerade Not am Mann ist. Dass alles so chaotisch abläuft, sei ein wenig enttäuschend, räumt Franziska Kusserow beim Telefonat mit den PNN ein. Aber sie findet es auch verständlich. Und das Gefühl, gebraucht zu werden, hat sie dennoch.
Zum Beispiel im „Babyhamam“, wo Eltern ihre Kinder waschen können. Freiwillige haben diese kleine Insel der Ruhe im „Hara-Camp“ aufgebaut, einem wilden Lager, das neben einem gleichnamigen Hotel in der Grenzstadt Ivzoni entstanden ist. In einem Zelt stehen Plastikwannen zum Baden, Babycremes und Kinderklamotten bereit. „Die Möglichkeiten, sich zu waschen, sind im Lager sehr beschränkt“, sagt Franziska Kusserow. Außerdem bietet der „Babyhamam“ auch einen Rückzugsort für Kinder im Durcheinander des Lagers.
Dort will die Potsdamerin auch in den kommenden Tagen helfen – und mit Flüchtlingen ins Gespräch kommen. Denn die Gruppe will möglichst viele Geschichten und Eindrücke sammeln, um in Deutschland auf die Lage der Menschen aufmerksam zu machen. Am Samstag fliegen Franziska Kusserow und die anderen zurück. Finanziert haben sie ihre Reise übrigens größtenteils selbst. Zwar haben sie Spenden gesammelt, doch die wollen sie vor allem vor Ort verteilen. Und ein Teil der Gruppe musste sich extra Urlaub nehmen für diese Reise. Obwohl sie mit Urlaub so gar nichts zu tun hat.
Von Katharina Wiechers

http://www.pnn.de/potsdam/1084249/
2016-06-08 PNN Reise ins Durcheinander.pdf (133,6 KB)