2016-03-07 PNN Land in Sicht

Land in Sicht

Mehr Meer. Heiko Michels, Caroline du Bled und Gilson Cardoso sind Scorbüt. Foto: Paula Bogati/promo

Scorbüt mit eigenwilliger Interpretation von Rio Reiser im Freiland

Natürlich muss man Rio Reiser in einen historischen Kontext setzen. Was aber, wenn der aktuelle Kontext so drängend ist, dass er ganz neue Voraussetzungen erfüllt? Scorbüt haben das mit ihrem Konstrukt von Heimat, Hafen und hoher See bereits erkannt: Das Meer als Sehnsuchtsort bekommt im Kontext der Globalisierung einen neuen Wert, den Rio Reiser wohl kaum vorausahnen konnte.
Am vergangenen Samstag waren Scorbüt im Haus 2 im Freiland zu Gast, um mit „Ceci n’est pas l’Europe“ ihre eigenwillige Annäherung an Rio Reiser zu präsentieren. Hatte Reiser mit Gittern und Mauern noch seine inneren Zwänge thematisiert, bewies das Trio an diesem Abend, dass diese betörende Melancholie auch ganz anders interpretiert werden konnte – im großen, weiten Meer ertrinken Menschen nämlich wieder, und das nicht nur sinnbildlich. Das mag hart klingen; aber wenn Sängerin Caroline du Bled „Le rêve est mort“ singt – „Der Traum ist aus“, dann könnte es schmerzhafter niemals sein.
Denn auch wenn damals alles versoffener und verrauchter war, wie Gitarrist Heiko Michels sagt, kann der morbide Ernst der heutigen Zeit nicht mehr unberücksichtigt bleiben. Von der schicken Theatralik haben sich Scorbüt deshalb auch folgerichtig entfernt: Mit einer leicht ranzigen Optik, Michels im Feinripp-Unterhemd und du Bled in Jogginghosen, unterstreicht die Band das Bild der heimkehrenden Matrosen.
Es ist auch ein wenig die Rückkehr zum Minimalismus, fernab der großen Gesten, die das Konzert so mitreißend macht – nur mit Michels Flamenco-Gitarre, Gilson Cardoso am Cajón und dem zwischen reduzierter Piepsigkeit und ausladender Erotik schwankendem Gesang von Caroline du Bled. Aber auch schmerzhaft: „Ich lebe seit 15 Jahren in Deutschland und habe das schöne Wort lichterloh noch nicht einmal gehört“, sagt du Bled. Erst jetzt, im Zusammenhang mit einem brennenden Flüchtlingsheim: „Zauberland ist abgebrannt“, rezitiert sie daraufhin Rio Reiser.
Nicht viel Romantik also diesmal von Scorbüt, und nicht eine einzige Möwe. Aber ein Konzert voller Bedeutung: Ein Jammer, dass Rio Reiser selbst dieses Konzert nicht mehr erleben durfte. Aber ganz bestimmt hätte ihm diese eigenwillige Interpretation gefallen, keine Frage.
Von Oliver Dietrich

http://www.pnn.de/potsdam-kultur/1056969/
2016-03-07 PNN Land in Sicht.pdf (104,7 KB)