2015-10-19 PNN Das Geheimnis der Ratte

Das Geheimnis der Ratte

Die Ratte polarisiert: Auf der einen Seite ist sie neugierig, zutraulich und intelligent, auf der anderen der Inbegriff von Ekel und Ablehnung, ein Symboltier fürwahr, das für das Schäbige, den Schmutz steht.
Und vielleicht hat sich diese Dichotomie hier gerade aufgedrängt – welches Tier könnte besser für derart feinen urbanen Rattenpop herhalten als dieses Nagetier, das sich thematisch durch das Konzept von Lilly and The Rats schlängelt.
Am Freitagabend gab es die Record-Release-Party zur Erstlings-EP namens „The Rat“ im Haus 2 auf dem Potsdamer Freiland-Gelände, und für eine Premiere war die Resonanz schlicht überwältigend. Es hat – ziemlich sicher – nicht nur am freien Eintritt gelegen, dass sich so viele Besucher den Auftritt der frischen Band ansehen wollten – immerhin gibt es die Formation erst seit 2013. Seitdem hat sich aber eine Menge getan, und wenn man voraussetzt, dass sich die Musiker nicht so oft sehen, gehört für so eine ausgereifte Musik schon ein gehöriges Maß Professionalität dazu.
Neben der Musik stehen Geschichten im Zentrum der Formation, in deren Zentrum das Geschwisterpaar Lilia – einzige Frau, Sängerin und Frontgesicht und außerdem an der Ukulele und Orgel beschäftigt, sowie Enrico Antico an der Gitarre stehen. Unterstützt werden die beiden von Kontrabassist Karl-Erik Enkelmann, der auch als Produzent im Berliner Lakeside Studio verantwortlich zeichnete, sowie dem Leipziger Hans Otto (nein, mit dem Potsdamer Theater hat er wirklich nichts zu tun) am Schlagzeug und dem Bassklarinettisten Thorsten Müller. Björk und Tom Waits nennt die Band als ihre Haupteinflüsse, und die sind – neben anderen ganz Großen – hier unverkennbar.
Es könnte also klassischer Jazz sein, der dabei herauskommt, aber es gibt immer noch diese schräg-kratzige Komponente, die den Songs ein bisweilen zappaeskes Alleinstellungsmerkmal verleiht. Die Stimme von Sängerin Lilly trägt durch die Songs, ein magnetischer Effekt, bei dem man sich kaum zu atmen traut. Die Ratte als Symbol trägt auch jenseits der Bühne – eine Handpuppe als Laborantin erzählt mit Reich-Ranicki-Akzent über Ratten, davon etwa, dass „die deutsche Hausratte von der Wanderratte überrannt“ wird. Ja, da darf das Nagetier auch für gallige Ironie herhalten, die durch die zart-düsteren Klänge wieder neutralisiert wird.
Überhaupt sind es diese sanft-grotesken Überraschungsmomente, die zwischen finsterer Schwere und zuckersüßen Melodien hervorkriechen und dem Konzert eine gewisse Tragik verleihen. Und diese Intensität, die sich tief in den Kopf hineinbohrt: „Behalte die Erinnerungen im Auge, die dich mit Leichtigkeit erfüllen“, doziert Lilia Antico als Rättin Lilly zu einem Song. Diese Leichtigkeit ist jedoch nur an der Oberfläche zu spüren – darunter ist etwas Tiefes, das sich unbedingt zu entdecken lohnt.
Von Oliver Dietrich

http://www.pnn.de/potsdam-kultur/1016238/
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