2015-05-26 PNN Hedonismus gegen Anarchie

Hedonismus gegen Anarchie Science-Fiction live:
von Oliver Dietrich

Das Weltall. Unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2255. Die Vereinigten Freien Staaten befinden sich im Krieg, und es sieht finster aus: Europa und die beiden amerikanischen Kontinente haben sich zu einer Allianz zusammengeschlossen, der Hauptfeind ist – natürlich – Russland. Der Kalte Krieg steht kurz vor der Eskalation, denn Russland, Asien und Afrika sind die kommunistischen Gegner der westlichen Welt, noch dazu hat sich das gebeutelte und fast bedeutungslos gewordene Australien dem Ostblock angeschlossen. „Die Notwendigkeit, einen Krieg zu führen, ist größer denn je“, heißt es lapidar – der Weltkrieg als reinigender Sehnsuchtsort, ein beinahe expressionistischer Gedanke.

Weil das Live-Hörspiel, das am Freitagabend im linksalternativen Spartacus zu erleben war, in der Zukunft spielt, wird natürlich größer, wird extra-terrestrisch gedacht: Der Mond als Planet ist bereits verloren, nur ein Planet außerhalb der Erde ist noch besiedelt: Die Venus ist in dieser Dystopie die Halde für alle Verbannten, Verbrecher und Gescheiterten, ein unwirtlicher Planet voll tosender Elemente – aber dennoch will die eine europäisch-amerikanische Delegation genau dort ihre Kämpfer rekrutieren, um den Weltkrieg – der eher ein Krieg der Welten ist – doch noch zu gewinnen.

Mission Venus also. Und ja, dieses gedankliche Rumgespinne macht durchaus Spaß, da muss man kein „Trekkie“ sein. Der Autor des Hörspiels Peter Wagner, vormals im Ensemble des Hans Otto Theaters und jetzt freier Schauspieler, Autor und Regisseur, widmet sich immer wieder den großen Fragen – letztens noch in der Reithalle mit seiner Kapitalismuskritik „Die fetten Jahre sind vorbei“. Jetzt eben mit einem Live-Hörspiel.

Alleine stand er am Freitagabend nicht auf der Bühne, auf seine Kollegen aus dem Ensemble des Hans Otto Theaters kann Wagner sich verlassen: Eddie Irle und Florian Schmidtke hatte er für die Lesung verpflichten können, außerdem den Beatboxer und Soundtüftler Nils Brzoska – herausgekommen ist ein Science-Fiction-Abenteuer, das sowohl theoretisch als auch akustisch und visuell ein Erlebnis war. Zugegeben: Die Figurenkonstellation war etwas kompliziert, dennoch erschuf Wagner keine Überforderung, sondern Unterhaltung, in der sich subversive Moral versteckt hatte. Denn die echte Alternative zur durchkapitalisierten Erde ist hier die Venus, hier herrscht eine quasi-ideale Anarchie. Zwar ist das Wetter ziemlich blöd – für die Erdlinge nahezu unerträglich – aber, wer hätte das gedacht, die Menschen sind glücklich. Kein Gott, kein Staat, kein Parlament. Von Autoritäten haben sich die hier Ausgesetzten befreit, was es den angereisten Exzellenzen und Kriegsministern nicht gerade leicht macht: „Es ist immer peinlich, ein Ideal in der Wirklichkeit anzutreffen“, heißt es im Stück – wie wahr. Und was macht man als autoritärer Staat? Man zwingt denen die Freiheit auf, die sie am wenigsten benötigen – oder löscht sie eben aus. Das wurde nicht altklug, sondern pointiert umgesetzt. Im Lachen sitzt nämlich gern das Schaurige.

Und gerade weil diese Nacht anschließend mit Drum’n’Bass bis zum Morgengrauen verflog, der unter dem Motto „Wer hören will, muss fühlen“ stand: Hedonismus macht erst richtig Vergnügen, wenn man ihn vorher infrage gestellt hat.