2014-12-19 PNN Ein Tag im Ausnahmezustand

Ein Tag im Ausnahmezustand

Ein Bombenfund bringt Potsdam zusammen: Beim Tee in Notquartieren, in überfüllten Trams und im Stau

Kaffee, Tee und Schnittchen – im Café im Haus 2 auf dem Gelände des Jugendkulturzentrums Freiland in der Friedrich-Engels-Straße trafen sich am Donnerstag die Generationen: Wegen der Bombenentschärfung am Hauptbahnhof wurde dort eines der Notquartiere für Anwohner eingerichtet. „Wisst ihr noch? Beim letzten Mal saßen wir auch hier an diesem Tisch“, sagt eine Seniorin zu ihren Begleitern. Die nicken. Man erzählt sich von den nächtlichen Fliegeralarmen im Zweiten Weltkrieg. „Noch jemand Kaffee?“, fragt Christina Behrendt. Sie arbeitet eigentlich beim Gesundheitsamt und kümmert sich dort um Kleinkinder. Heute ist sie wie viele Mitarbeiter der Stadtverwaltung bei der Evakuierung im Einsatz. Geduldig hört sie sich die Erzählung eines älteren Mannes über Namensforschung an. Die Atmosphäre ist erstaunlich gelöst. „Wir kennen das schon“, sagt Freiland-Chef Dirk Harder. Ein Freiland-Mitarbeiter baut einen Beamer auf. Eine ZDF-Nachmittagsserie wird an die Wand gestrahlt und auf dem Sofa schläft ein Baby in den Armen seiner Mutter. Alle sind irgendwie aus ihrem gewohnten Rhythmus gerissen.

Dabei hatte der gestrige Donnerstag in Potsdam wie ein normaler Wochentag in der Vorweihnachtszeit begonnen: Menschen gingen zur Arbeit, Schüler in die Schule, der Landtag tagte und der Weihnachtsmarkt öffnete. Doch um 10 Uhr wurde auf einer Baustelle in der Babelsberger Straße etwas entdeckt, was den Tag veränderte. Unter dem früheren Parkplatz gegenüber des Eingangs der Bahnhofspassagen schlummerte eine 250 Kilogramm schwere Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg unter der Erde. Weil sie bereits bewegt worden war, entschied Sprengmeister Mike Schwitzke vom Kampfmittelbeseitigungsdienst des Landes, dass der Sprengkörper unverzüglich unschädlich gemacht werden muss.

Um 11.51 Uhr meldete das Rathaus den Bombenfund und legt den Sperrkreis für die Entschärfung fest. Der Umkreis von 800 Metern um den Fundort musste geräumt werden. Um 12.30 Uhr sollte es losgehen. Im Sperrgebiet befanden sich drei Pflegeheime, der Hauptbahnhof, die Lange Brücke und der Landtag. Was folgte, war mit fast 10 000 Betroffenen nicht nur eine der größten Evakuierungsaktionen der Stadt, sondern auch die schnellste.

Doch davon war am Mittag anfangs wenig bemerkbar: Die Anzeigentafel im Hauptbahnhof zeigte noch kurz vor 12.30 Uhr alle Züge nach Fahrplan an. Auf einem Großbildschirm vor dem Eingang zum Kaufland schauten sich Familien einen russischen Märchenfilm an und aßen Pizza, die Geschäfte waren geöffnet. Es herrschte rege Betriebsamkeit. Einen ersten Hinweis gab es dann auf der Anzeigetafel des Potsdamer Verkehrsbetriebs an der Tramhaltestelle: „Ab 12.30 Uhr wird der Tram- und Busverkehr wegen einer Munitionsbergung unterbrochen“, war dort zu lesen. Hektik kam erst auf, als vor der Filiale eines Elektronikmarktes die Sirene des Feueralarmes losging. Ein Durchsage forderte dazu auf, das Gebäude sofort zu verlassen. Informationen darüber, für wie lange und warum, gab es nicht.

Auf dem südlichen Bahnhofvorplatz herrschte unterdessen Unentschlossenheit. Mehr als hundert Menschen warteten dort noch gegen 14 Uhr. Die Straßenbahnen fuhren am Hauptbahnhof wie auch an den anderen Haltestellen im Sperrkreis ohne Stopp durch. Hin und wieder kam aber noch ein einzelner Bus. Auch mehrere Potsdam-Besucher sind vor dem Bahnhof gestrandet. Ein Paar aus den Niederlanden wollte mit der S-Bahn nach Berlin – doch die fuhr erst in Babelsberg los.

Erst nach und nach zeigten sich mehr Mitarbeiter des Ordnungsamtes, informierten und baten die Wartenden, den Sperrkreis zu verlassen. In der Friedrich-Engels-Straße gingen sie von Haus zu Haus und klingelten an den Türen. Besonders aufwendig war die Evakuierung in den drei Pflegeheimen im Sperrkreis. 375 Menschen ließen sich von der Feuerwehr aus dem Evakuierungsgebiet bringen. Andere suchten eines der Ausweichquartiere im Treffpunkt Freizeit, in der Comenius-Schule, auf dem Gelände des Jugendkulturzentrums Freiland sowie in der Mehrzweckhalle des Oberlinhauses auf.

Während es am Nachmittag im Sperrkreis nahezu menschenleer war, wurde es andernorts eng: Die Sperrung der Langen Brücke sorgte für einen Verkehrskollaps auf allen Zufahrten rings um die Humboldtbrücke. Auf der Nuthestraße stauten sich Autos kilometerweit, auch auf der Rudolf-Breitscheid-Straße ging es gegen 17 Uhr bis weit nach Babelsberg hinein nicht voran. Im Norden stauten sich die Autos auf der Nedlitzer Straße. Die Trams der Linien 94 und 99 waren überfüllt. Erst nach der erfolgreichen Entschärfung normalisierte sich die Lage wieder.
Von Marco Zschieck

http://www.pnn.de/potsdam/920852/
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