2008-09-29 MAZ - „Villa Wildwuchs“ ist besetzt Jugendliche setzen die Stadt unter Druck: „Wir können auch anders“

SOZIOKULTUR: „Villa Wildwuchs“ ist besetzt
Jugendliche setzen die Stadt unter Druck: „Wir können auch anders“ / Schlösserstiftung dementiert Abrisspläne

POTSDAM / BABELSBERG - Erste Handy-Kurzbotschaften gehen am Freitagabend an einen ausgewählten Verteiler: Die „Villa Wildwuchs“ ist besetzt. Linke Jugendliche sind am Nachmittag in das marode, einzeln stehende Gebäude an der Havel zwischen Humboldtbrücke und Babelsberger Park eingestiegen. Einige, wie Achim Trautvetter, stammen aus dem Umfeld des Spartacus e.V., der seit Ende April auf einen Ersatz für seine Räume in der Schlossstraße wartet.

In der Nacht zum Sonntag kommen 250 Leute. Wasser und Strom liegen an. Eine Soli-Kasse steht da für die Bands, die unten im Keller gratis spielen. Es gibt „Sterni“ (Sternburger Bier) für einen Euro und gegen den Hunger Bananen. Draußen an zwei Lagerfeuern wird diskutiert.

Ohne spektakuläre Aktionen wie diese „können wir noch lange auf ein vielfältigeres Kultur- und Wohnangebot der Stadt warten“, heißt es in einer Erklärung. Die rund 20-köpfige Kerntruppe der Besetzer fordert langfristige Verträge für alternative Kultur- und Wohnprojekte wie das „Archiv“ und die „Uhlandstraße 22“. Stadtjugendringchef Dirk Harder kommt vorbei. Er habe „Verständnis für die Symbolik“, sagt er. Lutz Boede von der Fraktion Die Andere erklärt sich solidarisch: „Es ist doch klar, auf welcher Seite wir stehen.“

Dass die Besetzung am Wahlwochenende beginnt, sei nicht nur eine symbolische Aktion, sagt einer der Jugendlichen. Man richte sich auf längere Zeit ein, wolle das Haus im Falle einer Räumung aber „nicht mit Militanz verteidigen“. Letzter Auslöser für die Besetzung unter dem Motto „Wir können auch anders“ war die jüngste Sitzung des Hauptausschusses am Mittwoch. Oberbürgermeister Jann Jakobs hatte 13 Ersatzstandorte für den „Spartacus“ prüfen lassen, darunter das Restaurant „Minsk“, die Alte Brauerei, die Fachhochschule und die Villa der Ex-Polizeiwache im Reiterweg. Ergebnis: Lediglich die Schiffbauergasse mit dem Waschhaus sei „verfügbar für temporäre Veranstaltungen“. Ein Witz, sagte einer, als die Jugendlichen enttäuscht die Ausschusssitzung verließen.

Das sanierte Millionenareal neben dem Theaterneubau leuchtet vom gegenüberliegenden Ufer herüber. „Nicht unser Ding, zu geleckt“, sagt einer. Man wolle etwas Eigenes, nicht bei anderen Trägervereinen betteln müssen – „einen selbst verwalteten, offenen Treff für Jugendliche“.

Die Villa Wildwuchs ist in städtischem Besitz, war aber nicht auf der Prüfliste des Oberbürgermeisters. Streetworker der Diakonie hatten hier bis zum Frühjahr eine Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche betrieben. Die Sanierung soll 300 000 Euro kosten. Zu teuer, sagte die Diakonie und übergab das Haus im August an den Kommunalen Immobilienservice der Stadt.

Unter den neuen Nutzern macht das Gerücht die Runde, die Schlösserstiftung solle das Haus bekommen und wolle es abreißen, um einen Parkplatz zu bauen. Nach seiner Kenntnis gebe es keine derartigen Pläne, sagt ein Sprecher der Stiftung auf MAZ-Anfrage. Ohnehin folgt die Mehrheit im Stadtparlament dem Wunsch der Bürger, auf dem Streifen zwischen Nuthestraße und Unesco-Park Trainingsplätze für den SV Babelsberg und andere Freizeitangebote zu installieren. Daran erinnert Anke Lehmann von der Bürgerinitiative Babelsberger Park, die gleichfalls zu den Besetzern gekommen ist.

Potsdams Spitzenpolitiker überraschte die Aktion. Sehen ließ sich noch keiner in der Villa. Linken-Fraktionschef Hans-Jürgen Scharfenberg sagte, die Besetzung sei verständlich, da es der Oberbürgermeister ein halbes Jahr lang nicht geschafft habe, den Jugendlichen Alternativen für ihre verlorenen Räume zu bieten. Jakobs selbst sagte, er biete Gespräche an. Eine schnelle Räumung durch die Polizei schloss er gestern aus. (Von Torsten Gellner und Volkmar Klein)

Quelle: MAZ vom 29.09.2008